Der folgende Kommentar wurde zuerst auf N3GZ.org veröffentlicht.

Im Spätsommer 2020 könnte man das Gefühl bekommen, dass der Durchbruch im deutschen E-Government kurz bevor steht. Der neue Bundes-CIO wird als “Netzwerker und Krisenmanager” gepriesen, die Corona-App zeigt, dass Softwareprojekte der Verwaltung gelingen können und mit den 3 Milliarden aus dem Konjunkturpaket sollte nun wirklich jedes Problem zu lösen sein, das nicht bei drei auf den Bäumen ist. Aber: Ein schneller Durchbruch ist trotzdem eher unwahrscheinlich. Denn, das alles dominierende und mit Abstand wichtigste Digitalisierungsvorhaben der Verwaltung in Deutschland, die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG), ist auch im Spätsommer 2020 noch eine große Baustelle. Niemand, der oder die sich intensiv mit der OZG-Umsetzung beschäftigt, geht davon aus, dass die berühmten 575 Leistungen in 2022 wirklich sinnvoll digital zugänglich sein werden.

Nachwuchskräfte diagnostizieren: Digitale Verwaltung ist komplex

Vor kurzem haben sich junge Expert:innen beim einem digitalen N3GZ-Meetup über die aktuellen Herausforderungen der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland ausgetauscht. Basierend auf Ergebnissen einer Umfragen unter Mitgliedern des jungen Netzwerkes haben sie eine Übersicht der grundlegenden Probleme erarbeitet und diskutiert. Zu den besprochenen Herausforderungen gehörten unter anderen fehlendes Know-How in den jeweiligen Behörden, sperrige gesetzliche Grundlagen, sowie die komplizierte Governance. Auch das berühmte Silodenken und mangelnde Führungsverantwortung waren ein Thema. Diese und andere Herausforderungen erschweren nicht nur die OZG-Umsetzung, sie alle haben gemeinsam, dass sie nur teilweise mit Geld und einem neuen CIO zu lösen sind. Der Ursprung, die Wurzel der Herausforderungen liegt nämlich tiefer. Die Digitalisierung der Verwaltung ist schlicht komplex.

Viele bewegliche Teile im föderalen Staat

Komplexität wird auf Wikipedia als Verhalten eines Systems definiert, “dessen viele Komponenten auf verschiedene Weise miteinander interagieren können, nur lokalen Regeln folgen und denen Instruktionen höherer Ebenen unbekannt sind”. Das “System Verwaltung” ist genau das: vielen Komponenten – in diesem Falle viele Leistungen und Behörden – die miteinander interagieren und sich an lokale Regel (z.B. Zuständigkeiten und Fachgesetze) halten. Bereits die genaue Anzahl der in Deutschland existierenden Verwaltungsleistungen ist nicht wirklich ermittelbar (es sind tausende). Die Anzahl der Behörden ist wohl eindeutiger, es sind jedoch ebenfalls tausende und davon oft mehrere an einer einzelnen Verwaltungsleistung beteiligt. Spätestens die daraus resultierenden Interaktionen zwischen all den Behörden über drei föderale Ebenen hinweg ergeben ein System, das aufgrund seiner Komplexität nur schwer zu steuern ist.

Von wegen „Einfach mal machen!“

Das “System Verwaltung” ist also komplex. Dass die OZG-Umsetzung nicht so schnell voran geht, wie mensch sich das wünschen würde, ist deshalb keine Überraschung, sondern folgerichtig. Änderungen komplexer Systemen sind nämlich aufwändig und brauchen Zeit. Bei jeder Änderung müssen unzählige Interaktionen und lokale Regel berücksichtigt werden, deren Auswirkung auf das Gesamtsystem zunächst unbekannt sind. Ein aktuelles Beispiel aus der deutschen Verwaltung ist “Einfach Leistungen für Eltern” (ELFE), das nach österreichischem Vorbild unter anderem die Beantragung von Kindergeld vereinfachen soll. Um die notwendigen rechtlichen Grundlagen für ELFE zu schaffen, sind sage und schreibe 8 Gesetzesänderungen nötig – von den technischen Voraussetzungen ganz zu schweigen. Und komplett antragslos, wie in Österreich, wird Kindergeld auch mit ELFE nicht.

Fünf Strategien, mit Komplexität umzugehen

Die gute Nachricht ist, Komplexität lässt sich managen

  • durch Vereinfachungen (Reduktion der Komponenten und Interaktionen),
  • durch Standardisierung (Vereinheitlichung der Interaktionsweisen),
  • durch Transparenz (Sichtbarmachung von lokalen Regeln)
  • durch Kooperation (Berücksichtigung nicht lokaler Regeln)
  • sowie durch Ausprobieren (Erkundung nicht lokaler Regeln).

Aber was ist mit den OZG-Themengruppen und der FITKO?

Und in der Tat, viele Maßnahmen und Konzepte der letzten Jahren gehen bereits in diese Richtung:

  • Die tausenden LeiKa-Leistungen wurden zu 575 OZG-Leistungen gebündelt (Vereinfachung),
  • Die OZG-Umsetzung wurde in Themenfeldern organisiert (Kooperation),
  • Mit FIM soll eine Methode die einheitlichen Beschreibung von Verwaltungsleistungen sicherstellen (Standardisierung)
  • und die FITKO wurde als zentrale Behörde geschaffen, die die beteiligten Akteure vernetzt und organisiert (Transparenz und Kooperation).
  • Schließlich sind die allerorts entstehenden Digitalisierungslabore nicht zuletzt ein Ort des Ausprobierens.

Trotz dieser bereits bestehenden Bemühungen ist die Bilanz nüchtern. Die Ergebnisse der OZG-Themenfelder sind nur Zwischenergebnisse, die noch in technische Lösungen übersetzt werden müssen. Die FIM-Bausteine stecken im Zertifizierungsnadelöhr von Bund und Ländern und die FITKO wurde erst vor einem guten halben Jahr gegründet – schlappe 3 Jahre vor der OZG-Deadline. Für ein erfolgreiches Management des komplexen Systems Verwaltung ist das nicht genug. Nachvollziehbar, dass die obersten Bürokratiewächter Deutschlands vom Normenkontrollrat in regelmäßigen Abständen fragen: “Funktioniert das?”

Komplexitätsknoten des OZG durchschlagen

Die bisher gewählten Maßnahmen und Konzepte gehen also nicht weit genug. Es braucht noch mehr Vereinfachungen, Standardisierung, Transparenz, Koordination und Ausprobieren, um der Komplexität der Verwaltung gerecht zu werden. Entlang dieser Achsen sollten jedenfalls die Diskussionen zur Verwaltungsdigitalisierung in den nächsten Wochen und Montaten laufen. Und: In diesem Sinne investiert, könnten sogar 3 Milliarden helfen. Wenn beispielsweise die FIM-Bausteine nicht von kleinen Arbeitsgruppen zwischen Bund und Ländern sondern in Kooperation von tausenden Fachexpertinnen aus den Kommunen erarbeitet und vergütet würden, wenn die viele bestehenden technischen Spezifikationen wie die Schnittstellen der Nutzerkonten durch eine einfache Google-Suche transparent auffindbar wären, wenn die sogenannte Nachnutzung von Software durch den Grundsatz “Public Money, Public Code” wirklich vereinfacht und nicht durch Konstrukte wie “Einer für alle” verschlimmbessert würden, dann stünde der Durchbruch vielleicht doch kurz bevor, in diesem Spätsommer 2020.